§139
Wenn der Arzt die Arznei zum Versuche nicht selbst eingenommen, sondern einer andern Person eingegeben hat, so muß diese ihre gehabten Empfindungen, Beschwerden, Zufälle und Befindensveränderungen deutlich aufschreiben in dem Zeitpunkte, wo sie sich ereignen, mit Angabe der, nach der Einnahme verflossenen Zeit der Entstehung jedes Symptoms, und wenn es lange anhielt, der Zeit der Dauer. - Der Arzt sieht den Aufsatz in Gegenwart der Versuchs-Person, gleich nach vollendetem Versuche, oder, wenn der Versuch mehrere Tage dauert, jeden Tag durch, um sie, welcher dann noch alles in frischem Gedächtnisse ist, über die genaue Beschaffenheit jedes dieser Vorfälle zu befragen und die so erkundigten, nähern Umstände beizuschreiben, oder nach ihrer Aussage dieselben abzuändern *.
* Wer solche Versuche der Arztwelt bekannt macht, wird dadurch für die Zuverlässigkeit der Versuchs-Person und ihrer Angaben verantwortlich und zwar mit Recht, da das Wohl der leidenden Menschheit hier auf dem Spiele steht.
§140
Kann die Person nicht schreiben, so muß sie der Arzt jeden Tag darüber vernehmen, was und wie es ihr begegnet sei. Es muß dann aber größtentheils nur freiwillige Erzählung der zum Versuche gebrauchten Person sein, nichts Errathenes, nichts Vermuthetes und so wenig als möglich Ausgefragtes, was man als Befund niederschreiben will, alles mit der Vorsicht, die ich oben (§. 84 -99.), bei Erkundigung des Befundes und Bildes der natürlichen Krankheiten angegeben habe.
§141
Doch bleiben diejenigen Prüfungen der reinen Wirkungen einfacher Arzneien in Veränderung des menschlichen Befindens und der künstlichen Krankheitszustände und Symptome, welche sie im gesunden Menschen erzeugen können, welche der gesunde, vorurtheillose, gewissenhafte, feinfühlige Arzt an sich selbst mit aller ihn hier gelehrten Vorsicht und Behutsamkeit anstellt, die vorzüglichsten. Er weiß am gewißesten, was er an sich selbst wahrgenommen hat *.
* Auch haben diese Selbstversuche für ihn noch andere, unersetzliche Vortheile. Zuerst wird ihm dadurch die große Wahrheit, daß das Arzneiliche aller Arzneien, worauf ihre Heilungskraft beruht, in jenen, von den selbstgeprüften Arzneien erlittenen Befindens-Veränderungen und den an sich selbst mittels derselben erfahrnen Krankheits-Zuständen liege, zur unleugbaren Thatsache. Ferner wird er durch solche merkwürdige Beobachtungen an sich selbst, theils zum Verständniß seiner eignen Empfindungen, seiner Denk- und Gemüthsart (dem Grundwesen aller wahren Weisheit: gnwqi seauton) theils aber, was keinem Arzte fehlen darf, zum Beobachter gebildet. Alle unsere Beobachtungen an andern haben das Anziehende bei weitem nicht, als die an uns selbst angestellten. Immer muß der Beobachter Andrer befürchten, der die Arznei Versuchende habe, was er sagt, nicht so deutlich gefühlt, oder seine Gefühle nicht mit dem genau passenden Ausdrucke angegeben und bezeichnet. Immer bleibt er im Zweifel, ob er nicht wenigstens zum Theil getäuscht werde. Dieses nie ganz hinwegzuräumende Hinderniß der Wahrheits-Erkenntniß bei Erkundigung der von Arzneien bei Andern entstandnen künstlichen Krankheits-Symptome, fällt bei Selbstversuchen gänzlich weg. Der Selbstversucher weiß es selbst, er weiß es gewiß, was er gefühlt hat, und jeder solche Selbstversuch ist für ihn ein neuer Antrieb zur Erforschung der Kräfte mehrer Arzneien. Und so übt er sich mehr und mehr in der, für den Arzt so wichtigen Beobachtungskunst, wenn er sich selbst, als das Gewissere, ihn nicht Täuschende, zu beobachten fortfährt und um desto eifriger wird er es thun, da ihn diese Selbstversuche die Kenntniß der zum Heilen meist noch mangelnden Werkzeuge nach ihrem wahren Werthe und ihrer wahren Bedeutung versprechen, und ihn nicht täuschen. Er wähne auch nicht, daß solche kleine Erkrankungen beim Einnehmen prüfender Arzneien überhaupt seiner Gesundheit nachtheilig wären. Die Erfahrung lehrt im Gegentheile, daß der Organism des Prüfenden, durch die mehren Angriffe auf das gesunde Befinden nur desto geübter wird in Zurücktreibung alles seinem Körper Feindlichen von der Außenwelt her, und aller künstlichen und natürlichen, krankhaften Schädlichkeiten, auch abgehärteter gegen alles Nachtheilige mittels so gemäßigter Selbstversuche mit Arzneien. Seine Gesundheit wird unveränderlicher; er wird robuster, wie alle Erfahrung lehrt.
§142
Wie man aber selbst in Krankheiten, besonders in den chronischen, sich meist gleichbleibenden, unter den Beschwerden der ursprünglichen Krankheit einige Symptome *
* Die in der ganzen Krankheit etwa vor langer Zeit, oder nie bemerkten, folglich neuen, der Arznei angehörigen Symptome.
der zum Heilen angewendeten, einfachen Arznei ausfinden könne, ist ein Gegenstand höherer Beurtheilungskunst und bloß Meistern in der Beobachtung zu überlassen.
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Dies ist der Text eines Buches aus dem 19. Jahrhundert,
der teilweise überholte Heilmethoden erläutert.
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